ORLANDO. EINE BIOGRAFIE.
von VIRGINIA WOOLF
Der Roman „Orlando“ ist ein „sprachliches und stilistisches Wunderwerk“, heißt es einhellig in der Literaturwissenschaft, aber dass er noch viel mehr ist, dass Virginia Woolf vor fast 100 Jahren mit „Orlando“ ein vorausweisendes Traumbuch für die Jahrzehnte später aufblühende Frauenbewegung und ein ästhetisches Manifest für die gegenwärtige Diskussion um Auflösung der Geschlechter-Grenzen verfassen würde, hätte sie sich wohl niemals träumen lassen. Das bunte abenteuerliche, über mehrere Jahrhunderte reichende Leben des jungen englischen Adligen mit dem wohllautenden Namen Orlando wird von der Hamburger Schauspielerin Saskia Junggeburth auf eine Weise vorgelesen, die den Witz dieses Textes, die feine Ironie und herbe Komik auf ganz unangestrengte Weise zum Leuchten bringt; es ist, als würden die Zuhörenden der Autorin beim Schreiben und beim Lachen über das Geschriebene zusehen können.
Saskia Junggeburth liest mit einem Tonfall, der die Musikalität dieser Sprache und ihren erzählerischen Reichtum bis ins kleinste Detail hörbar macht. Sie beschränkt sich - in knappen 90 Minuten - auf den ersten Teil des Romans, der das Leben des schönen Jünglings vom 16-jährigen Raufbold über den erwachsenen Liebhaber der verführerischen Russin Sasha - in einem besonders frostigen Londoner Winter - bis zum Konsul der englischen Königin in Konstantinopel umfasst, wo Orlando eines Tages nach dem Aufwachen beim Blick in den Spiegel feststellt, dass er zur Frau geworden ist. Mit dieser überraschenden Entdeckung entlässt Saskia Junggeburth ihre Zuhörer.innen, und es wird klar, was sie (uns) angeboten hat: Eine Verführung zum Lesen, zum Nach- und Weiterlesen eines Romans, der alle Grenzen sprengt, nicht nur die von Raum und Zeit, sondern die der Geschlechter-Rollen, der eindeutigen Identitätszuweiungen, ein Roman, der das Spiel mit festen Lebensentwürfen gefährlich ins Fließen bringt.
Saskia Junggeburth lässt ihr Publikum - bei der Premiere in dem ungewöhnlich modernen, für Lesungen bestens geeigneten Raum der Hammer Kirche (Hamburg) - einen äußerst gegenwärtigen Orlando entdecken: ein flirrendes, queeres Trans-Gender-Märchen. Dem Musiker Ramón Lazzaroni, der die Lesung begleitet, gelingt es meisterhaft, auf der Kontrabass-Flöte dunkle repetitive Tonfolgen zu erfinden, die er auf mehreren kleineren Flöten mit englischen Volksmusik-Assoziationen umspielt. Damit schafft er eine Atmosphäre, die den heiteren Geschichten über Orlandos abenteuerliches Leben und Lieben eine ganz andere Note geben: er holt hervor, was sich in Virginia Woolfs Roman untergründig verbirgt, eine tiefe Melancholie, über die das Lachen nicht hinwegtäuschen kann. Wer den phantastischen Roman „Orlando“ kennen lernen will, aber auch, wer ihn schon gut zu kennen glaubt, sollte sich diese verführerisch gelungene musikalische Lesung von Saskia Junggeburth und Ramón Lazzaroni nicht entgehen lassen.
Hans Happel, Theaterkritiker
16. Juni 2024